Akute Rückenschmerzen-was tun?

Bewegen? Schonen? Ist der Schmerz gefährlich oder harmlos? Bei akuten Rückenschmerzen kreisen den Betroffenen unwillkürlich viele Gedanken durch den Kopf…. Die Informationen, die man darüber bekommt, sind entweder veraltet oder widersprüchlich.
Auch im Internet werden Informationen ungefiltert-egal ob falsch oder richtig-verbreitet. Das führt eher zu Verwirrung und Unsicherheit. Allerdings sind Klarheit und Sicherheit im Umgang mit dem Schmerz Voraussetzungen für eine optimale Heilung.

Wenn Sie diese Situation kennen, hilft Ihnen vielleicht dieses Interview mit einem kompetenten Orthopäden aus dem Hamburger Rückenzentrum am Michel. Lesen Sie im Folgenden die Veröffentlichung aus GEO Wissen Gesundheit “Muskeln, Knochen, Gelenke” ! (16/05/2017)

 

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GEO WISSEN: Herr Dr. Mallwitz, Bewegung wird als das Heilmittel schlechthin angepriesen. Aber gibt es nicht Situationen, etwa bei akutem Rückenschmerz, in denen erst einmal Schonung das Beste ist?
Dr. Joachim Mallwitz: In einer akuten Schmerzepisode kann kurzfristig etwas Schonung erforderlich sein, aber generell gilt: Bewegung ist gut und notwendig. Wer sich hinlegt und abwartet, macht es nur noch schlimmer. Entscheidend ist, dem Patienten zu sagen: Ein akuter Rückenschmerz hat weit überwiegend keine schlimme Ursache; bewegen Sie sich so gut Sie können, dann verschwindet der Schmerz meist von allein.

Und so kommt es dann?
Wenn der Arzt richtig seinen Patienten erreicht: ja. Doch das ist nicht so einfach. Information muss für unterschiedliche Menschen unterschiedlich aufbereitet werden. Keinerlei oder sehr drastische Informationen zu geben verunsichert die Patienten. In vielen Fällen wirkt nur die alleinige Aufklärung, wie ein frappierendes Beispiel aus Australien zeigt: Dort lief in einem Distrikt vor den Abendnachrichten ein Werbespot mit der Botschaft: Kreuzschmerz ist nichts Bedrohliches, bleib aktiv, der Schmerz wird wieder verschwinden. Man hat dann diesen Distrikt mit anderen verglichen. Das Ergebnis war eindeutig: Dort, wo der Werbespot lief, gab es signifikant weniger Arbeitsunfähigkeitstage und weniger Arztbesuche aufgrund von Kreuzschmerzen.

Aber mitunter kann ein akuter Schmerz ja durch ernste Probleme etwa mit der Wirbelsäule ausgelöst worden sein!?
In einem geringen Prozentsatz führen entzündliche Erkrankungen, Tumorerkrankungen, Brüche und neurologische Beschwerden zu dem Rückenschmerz. Solche ernsthaften Ursachen gilt es auszuschließen. Daher sollte unbedingt eine gründliche Befragung und Untersuchung erfolgen und das Ergebnis dem Patienten verständlich vermittelt werden. Röntgenbilder oder eine Kernspintomographie können hilfreich sein, allerdings vermögen sie die aktuelle Schmerzursache häufig nicht abzubilden und verunsichern die Betroffenen.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Mir saß kürzlich ein 76-jähriger Imker mit einem abklingenden Hexenschuss gegenüber, also mit einer akuten Funktionsstörung und einer muskulären Verspannung. Sein Hausarzt hatte empfohlen, ein Röntgenbild machen zu lassen. Darauf zeigten sich tatsächlich schwere degenerative Veränderungen an der Wirbelsäule. Der Imker vermutete einen Zusammenhang zwischen seinen Beschwerden und den Verschleißveränderungen und fragte, was er tun solle. Ich habe ihm deutlich gemacht, dass es da keinerlei Zusammenhang gibt, denn er hatte vor dieser akuten Episode keine Schmerzen, während es die Veränderungen an der Wirbelsäule schon seit Langem gab.

Ist das nicht ein Einzelfall?
So etwas gibt es oft. Die Patienten wünschen eine exakte und technisch hochwertige bildliche Darstellung der schmerzhaften Region. Dabei werden häufig Befunde erhoben, die bedeutungslos, also nicht Ursache für die Schmerzen sind. Diese Befunde haben sich aber häufig im Kopf festgesetzt und leiten dann einen körperlichen Rückzug ein. Der Mensch wird schwächer, und es kommt bei geringeren Belastungen wieder zu Schmerzen, was einen weiteren Rückzug zur Folge hat. Eine Abwärtsspirale entwickelt sich.

Aber sind es nicht ganz oft die Bandscheiben, die Probleme machen, vor allem, wenn es zu einem Vorfall kommt?
Zunächst einmal ist es wichtig zu wissen, dass Bandscheiben extrem viel aushalten, die springen nicht einfach heraus, nur weil man sich falsch bewegt. Die Patienten haben eine rein mechanische Vorstellung: Der Bandscheibenvorfall drückt auf die Nerven, es tut weh
– also muss das eine die Ursache für das andere sein.

Und das ist nicht der Fall?
Ich kann aus einer Veränderung am Rücken nicht immer eine Kausalbeziehung zum Schmerz herstellen. Studien zeigen, dass jeder dritte kreuzschmerzfreie 30-Jährige Auffälligkeiten an der Bandscheibe wie eine Vorwölbung oder gar einen Vorfall hat; unter den 60-Jährigen sind es sogar doppelt so viele. Und wenn man hochfeine Untersuchungen macht, dann entdeckt man bei 75 Prozent aller 28-Jährigen leichte Risse in den Bandscheiben. Was zu einer Angst vor Bewegung führen kann, obwohl die Schmerzursache eventuell nur eine Muskelverspannung ist und sehr gut auf Bewegung reagieren würde.

Aber wenn der Patient tatsächlich einen Bandscheibenvorfall hat, der auf einen Nerv drückt, dann kann heftiger Schmerz bis in die Beine ausstrahlen!?
Das ist richtig, aber jetzt sprechen wir über einen Nervenschmerz im Bein, und den müssen wir vom reinen Kreuzschmerz trennen. Neben dem mechanischen Druck auf den Nerv gibt es eine weitere Erklärung für die Schmerzentstehung: Durch den ausgetretenen Teil des Bandscheibenkerns kommt es zu einer Entzündung. Daher hilft in diesem Fall auch eine Behandlung mit Kortison. Lässt sich so der Beinschmerz kontrollieren und besteht keine relevante Lähmung der Muskulatur im Bein, so ist häufig auch keine Operation mehr erforderlich. In manchen Fällen ist ein Jahr später in der Kernspintomographie nur noch ein unbedeutender Rest des Vorfalls zu sehen.

Wenn Bandscheibenvorfall für Sie keine Diagnose ist – wie ließe sich denn beschreiben, woran der Patient leidet?
Viele Ärzte stellen heutzutage eine sogenannte Strukturdiagnose: Sie schauen nach, was ist an der Wirbelsäule das Problem, und dann diagnostizieren sie beispielsweise eine Spinalkanalstenose, ein Facettensyndrom oder eben einen Bandscheibenvorfall. Doch das sind Beschreibungen für Befunde auf einem Röntgenbild oder in der Kernspintomographie – Befunde, von denen wir im Einzelfall gar nicht wissen, ob sie den vom Patienten beschriebenen Schmerz verursachen.
Wir brauchen stattdessen eine Funktionsdiagnose: Wenn der Patient Schmerzen beim Stehen oder Sitzen hat, so muss ich ihm dabei helfen, die Einschränkung zu reduzieren, nicht mehr und nicht weniger. Schmerzen stehen aber, wie schon erwähnt, nicht immer unbedingt in Bezug zu den im Röntgenbild erkennbaren Befunden. Daher muss die Behandlung immer auf Funktionsverbesserung zielen.

Das hilft Menschen, die chronische Schmerzen haben, aber nicht weiter!
Auch bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen stehen die Funktion und die Funktionsverbesserung im Vordergrund. Warum kann der Patient nicht seinen üblichen Tagesablauf realisieren, warum nicht an den Arbeitsplatz zurückkehren? Das größte Problem des chronisch kranken Patienten ist, dass er behandelt wird, als ob er akut unter Schmerzen leidet: mit passiven Therapien wie Massage oder Wärmebehandlungen. Die helfen aber allenfalls kurzfristig. Der chronische Rückenschmerz kann auf diese Weise nicht erfolgreich therapiert werden.

Weshalb nicht?
Weil sich durch die chronische Schmerzerkrankung die körperliche Leistungsfähigkeit deutlich reduziert hat. Passive Therapieformen können diese verlorene Leistungsfähigkeit nicht zurückgeben.
Darüber hinaus hat der chronische Schmerz weitere Dimensionen: Er wird durch Veränderungen in unserem Gehirn verstärkt empfunden, ein Schmerzgedächtnis entwickelt sich. Psychosoziale Belastungsfaktoren wie zum Beispiel eine Stressbelastung können dann zu einer weiteren Schmerzverstärkung führen – sei es durch mangelnde Wertschätzung und Überlastung im Beruf oder nach einer Trennung vom Partner oder bei der Pflege von Angehörigen. Deshalb ist bei solchen Patienten eine zusätzliche Untersuchung durch einen Psychologen und einen Physiotherapeuten erforderlich.
Die jeweiligen Einschätzungen müssen dann zusammengetragen werden und in einer gemeinsamen Empfehlung an den Patienten münden.
Gewinnt man den verunsicherten Patienten nicht für ein aktives Umgehen mit dem Schmerzproblem, dann wird er sich immer weiter sozial und körperlich zurückziehen.

Worin zeigt sich das konkret?
Der Betroffene trifft sich nicht mehr mit Freunden, geht kaum noch aus dem Haus. Er kauft keine schweren Getränkekisten mehr, mäht nicht den Rasen, zieht sich zurück, die Muskeln bauen sich ab, der Körper wird weniger leistungsfähig – und das Problem wird größer, der Schmerz kommt schneller oder heftiger.

Was können Sie in dem Fall tun?
Wir versuchen Patienten mit chronischen Rückenbeschwerden vor allem die Furcht vor dem Schmerz zu nehmen: mit einer Expositionstherapie, bei der der Betreffende mit seinen Ängsten vor Bewegung konfrontiert wird, etwa dem Heben von Lasten. Die sehr Ängstlichen stellen sich die Hebebewegungen zunächst nur vor, dann bewegen sie sich ohne Gewicht, und schließlich heben sie selbst Kisten mit Sandsäcken auf ein Regal.
Wer das gut schafft, bekommt immer mehr Gewicht. So gewinnen die Patienten langsam wieder Vertrauen in ihre Bewegungs- und Belastungsmöglichkeiten.

Das hilft schon?
Nicht allein. Wir bauen es in eine vierwöchige multimodale Therapie ein: die einzige Therapieform für chronische Schmerzpatienten, die bewiesenermaßen hilft.

Die ein Arzt allein nicht leisten kann.
Als Einzelkämpfer vermag man den Dimensionen des Problems nicht gerecht zu werden
– das kann nur ein medizinisches Zentrum mit unterschiedlichen Experten. Das ist derzeit im ambulanten Gesundheitssystem nicht zu finanzieren. Es geht nur, wenn man als Zentrum direkte Versorgungsverträge mit den Krankenkassen abschließt. Bislang begreifen allerdings erst wenige Kassen, dass sich damit langfristig pro Patient nachgewiesenermaßen mehrere Tausend Euro sparen lassen, weil die Betroffenen dann nicht über Jahre immer wieder passiv behandelt werden, sich vielleicht mehrfach operieren lassen – und am Ende womöglich doch berufsunfähig bleiben.

Wenn ich ab und zu Rückenschmerzen habe: Was kann ich tun?
Die eigene körperliche Fitness verbessern. Dazu gehören neben einem Krafttraining auch Ausdauertraining und ein koordinatives Training. Dies kann in vielen verschiedenen Formen absolviert werden, sie sollten allerdings darauf achten, dass Sie sich gut aufwärmen und dehnen. Sehr hilfreich ist zu Beginn eines Trainings auch die segmentale Stabilisation, bei der man gezielt die innere Muskulatur trainiert, die für die Grundstabilität des Körpers wichtig ist.

Und wenn jemand gern schwimmt, sein Orthopäde ihm aber vom Brustschwimmen abrät?
Dann sage ich: Natürlich dürfen Sie Brustschwimmen, probieren Sie es einfach aus. Es kann sein, dass Sie zunächst Beschwerden oder Verspannungen bekommen, aber es bedeutet nicht, dass Sie Ihre Wirbelsäule schädigen.Oder versuchen Sie es mit Rückenschwimmen, das löst bei einem ungeübten Schwimmer nicht so leicht Schmerzen und Verspannungen aus. Entscheidend aber ist: überhaupt wieder aktiver zu werden.
Warum scheitern so viele Menschen an dem regelmäßigen Training?
Weil sie nicht die erforderliche Intensität wählen oder diese nicht nach einem festen Plan steigern.

Wie kann man es besser machen?
Den Schmerzpatienten muss man sagen: Sie müssen Ihrem Rücken Zeit geben, sich an die zunehmende Belastung anzupassen. Es sollte nach Quote trainiert werden.
Zum Beispiel: Wenn Sie zehn Minuten joggen können, fangen Sie mit acht Minuten an, an jedem zweiten Tag. Wenn es Ihnen gut geht, joggen Sie nicht länger als acht Minuten, und wenn es Ihnen nicht so gut geht, trotzdem nicht weniger. Nach einiger Zeit steigern Sie langsam. Das gilt auch für das Rückentraining. So kann sich der Körper gut auf die zunehmenden Reize einstellen, sich anpassen und unempfindlicher werden. Das hat in fast allen Fällen Erfolg.

Quelle:
GEO Wissen Gesundheit “Muskeln, Knochen, Gelenke” (16/05/2017)

 


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